International Coach Federation Deutschland

Wie gehst du mit unangenehmen Gefühlen um?

 

Gedanken und Anregungen zum Aufbau emotionaler Kompetenz für Coaches

Wäre es nicht wirklich lohnend, zu lernen ein Gefühl als Gefühl zu betrachten, statt als eine Wahrheit, von der wir uns zu Handlungen hinreißen lassen - mit teilweise weitreichenden Konsequenzen? Wir sehen es im Kleinen wie im Großen. Vor vielen Jahren - noch vor dem Handy-Zeitalter - stand ich auf einem Bahnsteig in der Erwartung, ein Freund würde aus dem gerade angekommenen Zug herauswinken, um mir zu signalisieren, in welches Abteil ich einsteigen sollte.  Niemand winkte mir zu. Ich wurde in meiner Erwartung enttäuscht. Ich wusste nicht: War er im Zug eingeschlafen oder gar nicht in den Zug eingestiegen? Mein emotionaler Aufruhr war so groß, dass ich mir so schnell wie möglich ein Auto lieh, um die 40 km zu seinem Wohnort zu fahren. Dort wollte ich nach dem Rechten zu sehen. Es war ein vollkommen irrationaler Akt, aber meine Wahrheit war: Ich habe die Kontrolle verloren und muss sie nun wiedergewinnen. In ein Auto zu steigen und loszufahren, gab mir gefühlte Kontrolle zurück. Ich konnte etwas tun. Heute würde ich in einer vergleichbaren Situation mein Augenmerk unmittelbar darauf legen, meine Gefühle zu beeinflussen. Ich würde nicht den Umweg über die Handlung nehmen. Erst die Gefühle zur Ruhe zu bringen, dann handeln. Das ist jedenfalls das, was sich nach meiner Einschätzung empfiehlt, es sei denn ich bin in einer akuten Situation, in der das Handeln keinen Aufschub verträgt.

Wie dankbar wären wir, gerade auch in der aktuellen Situation, wenn das auch bei den Mächtigen der Welt Standard wäre. Wir brauchen Wege, belastende, schwierige Emotionen in uns zu beruhigen- nicht oberflächlich, sondern in der angemessenen Tiefe. Erst dadurch bekommen wir den Blick frei für die Optionen, die wir haben.

Als Coaches sind wir ganz besonders gefragt darin, emotionale Kompetenz aufzubauen. Wir benötigen diese, um im Kontakt zu unseren Klienten präsent zu sein und zu bleiben, auch wenn diese emotional werden. Wir sind Multiplikatoren für emotionale Kompetenz.

Die nachfolgenden Ausführungen können hilfreich sein im Umgang mit sich selbst und in der Unterstützung von Klienten.

 

Kennst du das?

Du spürst ein intensives, belastendes Gefühl, durchlebst es „Millimeter für Millimeter“. Plötzlich tritt eine Veränderung ein. Das intensive Gefühl ist wie weggeblasen, stattdessen spürst du Ruhe, Kraft, Erleichterung, Gelöstsein, vielleicht auch erstmal eine neutrale Leere.

 

Kennst du das?

Du bekommst Zugang zu einem wirklich unangenehmen Gefühl in dir, entweder weil es dich „überfällt“ oder weil du aktiv nachforscht, was in dir vorgeht. Das Gefühl ist wirklich unangenehm, aber gleichzeitig liegt auch etwas Positives darin, als ob du durch das Zulassen mehr Nähe zu dir selbst bekommst, als ob du einen langen Kampf gegen das Spüren beendest, als ob du etwas von dir durch das Zulassen genauer verstehen und einordnen kannst.

 

Kennst du das?

Du fühlst dich verletzlich. Du erlebst das als verunsichernd, aber gleichzeitig wird in der Verletzlichkeit eine Zartheit spürbar, die dich anzieht. Du genießt die Offenheit, die mit der Verletzlichkeit einhergeht. Wenn du in dieser verletzlichen Haltung einer anderen, wohlwollenden Person begegnest, erlebst du den Kontakt als unmittelbar, intensiv und verbindend. Es ist dir bewusst, dass es schmerzlich werden kann, wenn die andere Person dir nicht die Qualität von Aufmerksamkeit entgegenbringt, die du in diesem Moment brauchst. Deshalb wählst du gut aus, wem du dich so zeigst.

 

Kennst du das?

Du lässt dich darauf ein, ein für dich unangenehmes Gefühl zu spüren. Während dieses Prozesses, steigen Bilder und Erinnerungen in dir auf. Du findest plötzlich die passenden Worte, um dein Erleben zu beschreiben. Du findest Worte, die du als wirklich treffend empfindest und auf die du durch bloßes Nachdenken nicht gekommen wärst.

 

Kennst du das?

Du spürst ein unangenehmes Gefühl in dir aufsteigen. Du kannst das wirklich nicht leiden. Dein Körper geht sofort in Abwehrspannung, was sich zusätzlich eng und einschränkend anfühlt. Du willst weg von dieser Situation. Du empfindest das Gefühl als lästig und irrational. Immer kommt es zum falschen Zeitpunkt. Vielleicht ist eine andere Person mit in der Situation. Du fängst an, in der anderen Person den Auslöser für dein Gefühl zu sehen. Weil diese Person sich so verhalten hat, geht es dir jetzt so.

Vielleicht kennst du alle fünf Erfahrungen. Die vier ersten sind Ausdruck eines kompetenten Umgangs mit Gefühlen, die fünfte Ausdruck von emotionaler Überforderung. Ich persönlich habe viele Menschen kennen gelernt, die eine Kompetenz im Umgang mit ihren Gefühlen haben. Dennoch erleben auch sie immer wieder etwas, was der fünften Beschreibung nahekommt. In Coachings höre ich bisweilen: „Jetzt habe ich mich schon so lange und so intensiv mit dem Thema befasst und trotzdem reagiere ich immer wieder in einer Weise emotional, die meiner inzwischen entwickelten Fähigkeit gar nicht entspricht.“ „Tja“, sage ich dann manchmal, „so ist das mit der Psyche: sie ist so vielschichtig, hat so viele unterschiedliche Reaktionsmöglichkeiten, Schwingungen, Facetten, Weisen etwas zu erleben, dass sie uns immer wieder überraschen kann.“ Wir können die Psyche nicht aufräumen, wie ein Zimmer, bei dem wir wissen: Wenn wir im letzten Winkel ausgekehrt haben, die letzte Schublade sortiert haben, dann ist da Ruhe und Ordnung. Wir können uns der erlangten Ruhe und Ordnung - oder im psychischen Kontext vielleicht besser: der erlangten Ruhe, Strukturiertheit, Klarheit erfreuen, aber wir bleiben uns selbst auch ein ganzes Stück unergründlich und rätselhaft. Genau das macht den Prozess der Selbstkenntnis dynamisch, aufregend und abenteuerlich. Die Psyche ist bei aller Klarheit, dir wir gewinnen können, keine Excel-Tabelle. Und das ist wunderbar so.

Dennoch: Selbst, wenn wir nie fertig werden: Es lohnt sich, sich auf den Weg zu machen und kompetent im Umgang mit seinen Gefühlen zu werden. Das sollte für uns so selbstverständlich werden wie Lesen und Schreiben.

Es gibt unterschiedlichste Ansätze, diese Kompetenz aufzubauen. Sie alle haben Merkmale von Akzeptanz, Wahrnehmung/Innehalten, Distanz und Nähe.

 

Akzeptanz: Gefühle, egal wie berechtigt oder unberechtigt, wie rational oder irrational, angemessen oder verwerflich wir sie finden mögen, brauchen Akzeptanz, ein inneres Eingeständnis: „Ja, ich empfinde …“

Schon dieser Schritt kann herausfordernd sein, mag er doch weitere Gefühle mit sich bringen, die auch nicht gerade im Ruf stehen, die genussvollsten zu sein wie Angst, Scham oder Hilflosigkeit. Beispiel: „Ja, ich empfinde Traurigkeit.“ Wenn ich mit Traurigkeit die Erfahrung verbinde, dass Traurigkeit etwas ist, was niemals vergeht, dann kann das Zulassen von Traurigkeit sehr beängstigend sein und mit Hilflosigkeit einhergehen. Wenn ich mit Traurigkeit assoziiere, dass sie ein Ausdruck von Schwäche ist, dann geht damit möglicherweise Scham einher, als sei das Eingeständnis von Traurigkeit gleichzeitig ein Akt der Selbsterniedrigung.

Gleichzeitig ermöglicht jedoch die Erkenntnis dieser Glaubenssätze, ein In-Frage-Stellen ebendieser Sätze: Aus „Traurigkeit endet nie.“ könnte werden „Das will ich jetzt mal überprüfen. Vielleicht stimmt es ja gar nicht.“

Aus „Traurigkeit bedeutet Schwäche.“ Könnte werden „Traurigkeit erlaubt mir weicher zu werden, loszulassen. Das fühlt sich gut an.“

 

Wahrnehmung/Innehalten: Beim Versuch, Gefühle wahrzunehmen, können wir auf zweierlei Weise scheitern: Entweder wir sind zu starr und kommen nicht ins Spüren oder wir werden von den Gefühlen überwältigt. David Siegel nutzt in seinem Buch „Mindsight“ das Bild eines Flusses, der schön gemach dahinplätschert. Auf der einen Seite des Flusses liegt das Ufer der Rigidität auf der anderen Seite das Ufer des Chaos. Er nutzt dieses Bild um unterschiedliche Lebensqualitäten zu beschreiben. Spezifiziert auf unseren Umgang mit Gefühlen, gilt jedoch das Gleiche: Wir suchen weder die Erstarrung noch das Chaos. Wir suchen einen Weg, unsere Gefühle erleben zu können, wie ein Fluss, der angenehm dahinfließt. Erst durch dieses Fließen Lassen wird Wahrnehmen möglich und bekommt die Qualität des Innehaltens. In der Rigidität spüren wir nur rudimentär. Im Chaos tobt das emotionale Erleben so, dass wir nicht in der Lage sind, einzelne Aspekte davon herauszufiltern.

 

Distanz: In den Fluss des Fühlens kommen wir, wenn das Flussbett ausreichend vorhanden ist. Das Flussbett ist unsere Fähigkeit, uns selbst in unserem emotionalen Erleben nicht allein zu lassen, sondern für uns da zu sein. Diese Beschreibung beinhaltet Distanz: Um für jemanden da zu sein, brauche ich Abstand. Ich darf nicht identisch sein, mit der Person, für die ich da sein möchte. Wenn ein Kind sich seiner Mutter in einer Not anvertraut und die Mutter hellauf entsetzt ist, dass das Kind leidet, kann die Mutter nicht mehr hilfreich sein. Die Not im Kind wird möglicherweise sogar größer, wenn es mitbekommt, wie sehr die Mutter leidet oder wenn die Mutter ihre eigene Emotion in Handeln umwandelt, das möglicherweise dem Interesse des Kindes zuwiderläuft. Die Mutter hat in diesem Fall nicht den notwendigen Abstand, um als Quelle für Hilfe wahrgenommen zu werden. Ganz analog ist es auch in uns selber notwendig, dass wir Abstand zu unserem emotionalen Erleben bekommen. Dies können wir beispielsweise tun, indem wir uns von außen betrachten: Einfach mal den Stuhl wechseln und von außen auf das emotionale Wesen schauen, das wir gerade sind. Diese Möglichkeit biete ich gerne in Coaching-Sitzungen an. Es ist sehr häufig eine hilfreiche Strategie, um erstmal aufzuatmen und zu merken: Ich bin auch noch jemand jenseits meiner Emotion. Ich bin auch noch jemand, der mit einer weiteren Perspektive auf die Situation schauen kann.

 

Nähe: Distanz allein schafft noch kein gutes Flussbett. In den Fluss des Fühlens kommen wir um so leichter, je mehr wir aus der Distanz liebevoll, anteilnehmend auf uns schauen können. Daher achte ich genau darauf, wie jemand von außen auf sich schaut: Ist da Anteilnahme oder eher Abwertung, Verachtung, Verurteilung? Wenn die Anteilnahme nicht spontan da ist, genügt manchmal diese Formulierung, um sie zu wecken: „Angenommen du siehst da drüben deinen besten Freund, deine beste Freundin sitzen, was empfindest du für ihn/sie in diesem Moment?“

Wenn ich jemanden einlade ein Gefühl genauer zu spüren, arbeite ich auch gerne mit folgender Formulierung: „Wenn du dich dem (z.B.)  hilflosen Anteil in dir zuwendest, so als ob du ihm damit sagen würdest: Ich bin jetzt für dich da. Ich bin jetzt da, um mit dir herauszufinden, was du brauchst, was löst das aus in dem hilflosen Anteil in dir?“

Auch diese Coaching-Strategie kann jeder mit sich selbst anwenden: Nach innen spüren in dem Bewusstsein: ich bin jetzt für mich da. Ich bin jetzt da, um der Seite in mir zu helfen, die sich gerade (z.B.) hilflos fühlt. Was löst das aus in dem hilflosen Anteil?

All diese Schritte „Aufbau von Akzeptanz, Wahrnehmen/Innehalten, Distanz und Nähe“ können nicht wie Patent-Rezepte angewandt werden. Es sind eher Leitlinien, die Suchbewegungen ermöglichen. Immer wieder ist es erforderlich zu reflektieren:

Was gelingt mir bereits? Was sind meine inneren Hemmnisse, um emotionale Kompetenz zu auszubauen? Welcher kleine, nächste Schritt ermöglicht mir weiterzugehen?

Nicht jeder einzelne Schritt dabei wird als große Weiterentwicklung empfunden, aber wer sich konsequent im Aufbau emotionaler Kompetenz unterstützt oder sich ggf. im Rahmen z.B. eines Coachings unterstützten lässt, sieht nach einiger Zeit: Ich habe mich verändert. Ich bin kompetenter geworden im Umgang mit mir selbst.

Viel Freude und Erfolg beim Erproben!

Autorin: Heika Eidenschink Grafik: ICF Germany


coachfederation.de  |  coachingtag.com

ISSN: 2702-7880

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