18 Mär 2022
Ethik bei den Nachbarn
Dr. Michael Fritsch
Wenn man sich auf Coaching fokussiert, dann sind Felder wie Beratung, Training, Therapie, etc. Nachbardisziplinen. Daher macht es Sinn, ab und zu mal zu schauen, mit was sich die Kolleg*innen von nebenan aktuell beschäftigen. Eine Gelegenheit hierfür bot sich bei der vom Deutschen Verband für Bildungs- und Berufsberatung (dvb) und dem Nationalen Forum Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung (nfb) im Frühjahr in den Räumen der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit (HdBA) in Mannheim durchgeführten Tagung „Ethik in der Beratung – Anspruch und Wirklichkeit“. In Zeiten „alternativer Fakten“ und Politikern, die via Twitter das Weltgeschehen beeinflussen, kann man schon ab und zu kritisch fragen, ob das Thema „Ethik“ altmodisch geworden und nicht mehr so wichtig ist. Die zweitägige Veranstaltung offenbarte das Gegenteil und verdeutlichte für den Bereich der Beratung in Bildung, Beruf und Beschäftigung viele „offene Fragen“ im Spannungsfeld zwischen ethischem Anspruch und Wirklichkeit. Es gab vielfältigen Diskussionsstoff, wie die Lücken zwischen „hehrem Anspruch und rauer Wirklichkeit“ geschlossen werden könnten, da die gesetzlichen, institutionellen und geschäftspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen Beratung in diesen Kontexten stattfindet, offenbar nicht immer mit den professionellen Ansprüchen an eine ethisch verantwortungsvolle Beratung vereinbar sind.
Für den im Fokus stehenden Kontext der Bildungs- und Berufsberatung wurde zum Beispiel die Frage thematisiert, wie prinzipiell mit dem asymmetrischen Charakter der Beratung umgegangen soll. Welche Verantwortung übernehmen zum Beispiel die Berater*innen für die Folgen der Beratung, wenn es um kritische Themen wie Kündigung, Abbruch einer Ausbildung oder einer Maßnahme der Agentur geht? Wie lässt sich eine Tendenz zur direktiven Beratung verhindern, wenn Berater*innen den Klienten (Kunden) als nicht entscheidungsfähig einschätzen? Auch Fragen, die jeder Coach kennt, müssen von jeder Beratungsfachkraft beantwortet werden: Können z.B. Berater*innen jede ihrer Interventionen rechtfertigen oder begründen, wenn sie gefragt werden? Kennen Berater*innen die Grenzen ihrer Fähigkeiten und beenden sie dann konsequent die Beratung, wenn sie sich überfordert fühlen?
In verschiedenen Plenarveranstaltungen und zehn parallelen Foren wurden solche Herausforderungen und Lösungsansätze thematisiert. Die ca. 300 Teilnehmer – inklusive einiger Studenten der Hochschule der Bundesagentur für Arbeit – konnten zum Beispiel von ehemaligen BA-Vorstand Professor Heinrich Alt – auch (selbst-) kritische Fragen mit Bezug auf die aktuelle Politik und Praxis beruflicher Beratung hören, wie z.B. „Wo setzen wir an, beim Menschen oder beim Markt?“ Diese Frage lässt sich auch auf das Coaching übertragen. Auch bezüglich der Profession gibt es Parallelen. So wurde z.B. in der Keynote von Karen Schober (Vorsitzende nfb) darauf hingewiesen, dass „Bildungs- und Berufsberater“ keine geschützte Berufsbezeichnung sei und es bislang keine verbindlich geregelten Zugangswege zu dieser Tätigkeit gibt. Nach ihrer Beobachtung gibt es eine „zunehmende Instrumentalisierung“ der Bildungs- und Berufsberatung für beratungsfremde Ziele und sie plädiert dafür, dass sich die „professional community“ diesem Trend entgegenstellen muss. Auch hier gilt es sicherlich im Coaching, sich vor einer Instrumentalisierung zu schützen und für solche Tendenzen wachsam zu bleiben. Der Mitveranstalter Rainer Thiel (Bundesvorsitzender des dvb) beklagte in seinem Vortrag, dass es verwirrende Vielzahl von „Kompassen“ für ethisches Handeln in der Beratung gebe und eine große Anzahl von Fachkolleg*innen, die versuchen, sie zu definieren. Wenn man hier wieder den Vergleich zum Coaching zieht, haben die Coaches mit dem kürzlich verabschiedeten Papier des RTC (vgl. https://www.roundtable-coaching.eu/wp-content/uploads/2018/05/RTC-Ethik-2018-03-19-Compliance-Richtlinie.pdf) die Chance einen Schritt voraus zu sein, wenn das Papier ausreichend Resonanz bekommt und in der Praxis beachtet wird.
Aus meiner Sicht hat sich der Besuch beim „Nachbar“ gelohnt. Ob in der Beratung oder im Coaching – Ethik darf nicht als lästige Begrenzung der Arbeit als Coach oder Berater verstanden werden. Dies gilt auch für die Institutionen, die für Coaches oder Berater*innen eine professionelle Heimat bieten wollen. Ethik-Kommissionen – so es sie denn gibt – können die Bedeutung ethischen Handelns im Bewusstsein halten und als Ansprechpartner zur Verfügung zu stehen, damit professionelle Spielregeln, wie z.B. die Ethikrichtlinien der ICF, nicht nur gelesen, sondern tatsächlich auch gelebt werden sollen.
http://www.dvb-fachverband.de/fileadmin/medien/tagungen/Tagungsrückblick_Ethik_final.pdf
oder http://www.forum-beratung.de/aktuelles/news/2018-02-22-fachtagung-ethik-in-der-beratung.html
Dr. Michael Fritsch
Juni 2018
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